In den letzten beiden Artikeln der Reihe Yoga und Medizin hatten wir uns zunächst mit dem Verständnis von Krankheit und Medizin bei Patañjali und dann mit der Beziehung zwischen Yoga und Ayurveda beschäftigt. Nach dem Einblick in die Geisteswelt der Zeit der Upanishads erfolgt nun ein Blick in das Verständnis von Erkrankungen und deren Therapie im Mittelalter, besonders im Kontrast zur westlichen oder traditionellen Medizin.

Im Mittelalter entstand eine neue Entwicklung des Geisteslebens in Indien. In allen Bereichen der Vedischen Wissenschaften entstehen neue, bis heute wichtige Werke, die die Veränderungen der Sichtweise im Verlauf der Zeit sehr gut nachvollziehen lassen.

Im Yoga sind die bekanntesten Werke dieser Epoche die Hatha-Yoga-Pradīpikā, die Gheraṇḍasaṃhitā und die Śivasaṃhitā. Was sich beim Studium dieser Schriften sofort eröffnet, ist, dass sich die Yoga-Praxis selbst verändert hat. Der Yoga, der vorgestellt wird, ist der Hatha-Yoga. Verschiedene Haltungen und Übungsverfahren werden genau beschrieben. Die drei mittelalterlichen Hauptwerke sind äußerst ähnlich. Daher werden hier nur die ersten beiden genauer vorgestellt, da sich die Kernaussage zu der Entwicklung des Medizinverständnis mit diesen beiden Schriften hinreichend beleuchten lässt.

Hatha-Yoga-Pradīpikā

Die Hatha-Yoga-Pradīpikā wurde von Svāmi Svātmārāma etwa im 15. Jahrhundert nach Christus verfasst. Sie ist der bedeutendste und einflussreichste klassische Text des Yoga im Mittelalter.

Seit Patañjali hat sich die Yoga-Praxis verändert. Die rein spirituellen Ziele, die in der Zeit der Upanishads vorherrschten, werden nun begleitet von auch weltlicherem Nutzen der Yoga-Praxis. Der Hatha-Yoga, der definierte körperliche Übungen beschreibt, ist entstanden und damit eineveränderte Wahrnehmung der Bedeutung des Körpers. Körperliche Heilung und Reinigung bekommen damit einen größeren Stellenwert auf dem Weg zur Ruhe des Geistes.

Im ersten Kapitel wird zunächst die Bedeutung von yama und niyama unterstrichen, um den Übenden für die körperlichen Schritte vorzubereiten. Dann werden einzelne āsana vorgestellt. Dies erfolgt konsequent in der immer gleichen Reihenfolge: erst wird beschrieben wie ein āsana ausgeführt werden soll. Danach werden die therapeutischen Wirkungen dieses speziellen āsana deutlich hervorgehoben.

Nehmen wir ein Beispiel: mayūrāsana Nach den Ausführungsanweisungen wird dazu beschrieben:

HYP I: 33 »Dieses āsana zerstört alle Erkrankungen und entfernt Bauchkrankheiten und auch die, die von Unregelmäßigkeiten von kapha, pitta und vāta hervorgerufen werden. Es verdaut ungesunde Nahrung, die im Übermaß aufgenommen wurde, fördert den Appetit und zerstört das maximal tödliche Gift.«

Schon an diesem einen Beispiel wird ersichtlich: so wie sich die Praxis des Yoga im Vergleich zu dem von Patañjali vorgestellten verändert hat, so hat sich auch die Sicht auf Krankheit und Medizin verändert. Krankheiten sind nicht mehr ein spirituell-geistiges Thema, die über primär meditative oder meditationsvorbereitende Übungspraktiken in ihrer Wurzel entfernt werden kann. Krankheiten werden moderner verstanden. Sie sind konkret die Erkrankungen, wegen derer die Menschen bis heute den Arzt suchen: Fehlverdauen, Appetitmangel, Baucherkrankungen…

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