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Kopfschmerzen gehören zu den häufigsten Ursachen einer ärztlichen Konsultation [1]. Dabei kann der Kopfschmerz sehr unterschiedliche Formen haben: Nach der International Headache Society (IHS) existieren 176 verschiedene Formen von Kopfschmerz. Diese werden in der International Classification of Headache (ICH) klassifiziert, die 2018zum letzten Mal aktualisiert wurde [2].Die beiden häufigsten Kopfschmerzformen sind Migräne und der Spannungskopfschmerz: 57,5% der Frauen und 44,4% der Männer in Deutschland berichten, binnen eines Jahres mindestens einmal Kopfschmerzen zu erleiden. 14,8% der Frauen und6,0% der Männer erfüllen die Kriterien für Migräne. 10,3%der Frauen und 6,5% der Männer sind von Spannungskopfschmerzen betroffen
Auch das traditionelle indische Medizinsystem Ayurveda klassifiziert – seit Jahrhunderten unverändert – den Kopfschmerz in Unterformen. In der klassischen ayurvedischen Literatur werden 11 Kopfschmerzerkrankungen unter dem Begriff „shiroroga“ beschrieben. Quellen dazu findet man z. B. in der Sushruta-Samhita [4] und dem Madhava-Nidanam. „Schmerzerkrankungen des Kopfes werden durchvata, pitta, kapha je einzeln oder durch ihre Kombination verursacht, durch rakta, durch dhatukshaya, krimi und auch durch Erkrankungen wie surya-avarta, anantavata,ardhavabheda und shankhaka“ .
Sämtliche Einflussfaktoren, die die Doshas verändern, können auch Kopfschmerzen hervorrufen. Als vorrangige Auslöser werden Fehlernährung, Bewegungsmangel, Verdauungsstörungen wie Obstipation und Flatulenz, entzündliche Stadien anderer Erkrankungen, Entzündung der Nasennebenhöhlen, Störungen des Sehsinns, Hypertonus, Hirntumoren, Exposition des Kopfes gegenüber zu viel Hitze, Kälte oder Sonne, abrupte Klimaveränderungen, weite Reisen, Schlaflosigkeit, Grübeln, Angst, Ärger, Überarbeitung, Sinnesüberreizung, emotionale Überanstrengung und Erschöpfung beschrieben. In den klassischen Texten sind auch schon Vorzeichen der Kopfschmerzen beschrieben: Als solche gelten Trockenheit, ein brennendes Gefühl, ein fixierter Blick, Jucken, Zittern, ein Schweregefühl oder Steifheit im Bereich des Nackens. Die Frühsymptome sind noch nicht krankheitstypisch, dennoch ermöglichen sie, eine Veränderung der Doshas frühzeitig zu diagnostizieren. Zum anderen kann der Patient lernen, vor Beginn der Erkrankung auf diese Vorzeichen zu reagieren und damit den Ausbruch der eigentlichen Kopfschmerzen zu verhindern.
Der klassische Ayurveda unterscheidet 11 Kopfschmerzformen. Jede wird in ihrer Symptomatik, ihrem Verlauf sowie lindernden und aggravierenden Faktoren beschrieben.
vataja-Kopfschmerzen
Diese Kopfschmerzen sind auf eine Störung des Doshavata zurückzuführen. Sie treten plötzlich auf, oft ohne ersichtlichen Grund. Die Schmerzqualität ist stechend, der Schmerz wird vom Patienten als stark empfunden und exazerbiert nachts. Begleitsymptome sind Obstipation und trockene Haut. Eine Tendenz zu Ängsten und Sorgen begleitet die körperliche Reaktion. Die Symptomatik lindert sich durch Wärme und feste Bandagen und verschlimmert sich durch Schlafmangel, unregelmäßige Ernährungsgewohnheiten, übermäßige körperliche Aktivität, mentale Überstimulation, Sorgen und Stress.
pittaja-Kopfschmerzen
Ihre Ursache liegt in einer Störung des Dosha pitta. Der Schmerz fühlt sich an, „als ob glühende Kohlen im Kopf wären“ oder „als ob Rauch aus Augen und Nase käme“. Besserung tritt nachts ein, lindernd wirken außerdem alle kühlenden Maßnahmen. Hitze, Ärger und Konkurrenzsituationen führen zu einer Verschlimmerung der Schmerzen. Typische Begleitsymptome sind ein gerötetes Gesicht, gerötete Augen, Lichtempfindlichkeit und evtl. Nasenbluten. Der Patient klagt oft über Reizbarkeit.
kaphaja-Kopfschmerzen
Sie werden durch eine Störung des Dosha kapha verursacht. Der Schmerzcharakter ist dumpf und schwer. Begleitend treten Schwellungen im Gesichtsbereich auf, vor allem um die Augen. Patienten beschreiben ein Gefühl von Fülle und Kälte im Kopf sowie Müdigkeit und Erschöpfung. Übelkeit, Schleimbildung, starker Speichelfluss oder Erbrechen können hinzukommen, evtl. kombiniert mit Lungenerkrankungen. Die Symptome vermindern sich durch Aktivität, Wärme und Nahrungskarenz bzw. Fasten. Nässe, Kälte, Tagesschlaf, Langeweile und Trägheit führen dagegen zur Symptomverstärkung.
sannipataja-Kopfschmerzen
Bei Kopfschmerzen vom sannipataja-Typ sind alle Doshas ursächlich beteiligt. Der Patient weist daher Symptome sämtlicher bisher beschriebener Kopfschmerzformen auf. Diese Form von Kopfschmerzen ist besonders heftig ausgeprägt.
raktaja-Kopfschmerzen
Die Symptomatik wird durch die Reizung des Blutgewebes verursacht. Sie äußern sich primär wie pittaja-Kopfschmerzen; dazu kommt jedoch noch eine starke Empfindlichkeit im Kopfbereich.
kshayaja-Kopfschmerzen
Verliert ein Mensch viel Substanz, z. B. durch Unfälle, schwere Krankheiten oder Operationen, kann es zu Kopfschmerzen vom kshayaja-Typ (=Gewebeverlust) kommen. Behandelt man diese durch Fehleinschätzung mit Ausleitungsverfahren wie Schwitzbehandlungen (svedana), therapeutisches Abführen (virecana), Behandlungen über die Nase (nasya) oder Aderlass (raktamokshana), so werden die Kopfschmerzen durch das Ausleiten weiterer Substanz noch verschlimmert.
krimija-Kopfschmerzen
Bakterien, Viren und andere Mikroorganismen werden im Ayurveda unter dem Begriff „krimi“ zusammengefasst. Auch sie können einen Kopfschmerz auslösen. Der Patient klagt dann über ständige stechende Schmerzen,„als ob der Kopf weggefressen werde“ oder „explodiere“. Blut, Eiter oder andere Sekrete können dann über die Nase ausgeschieden werden.
surya-avarta-Kopfschmerzen
Liegt die Erkrankung surya-avarta vor, beginnen die Kopfschmerzen bei Sonnenaufgang und nehmen im Laufe des Tages – entsprechend dem Lauf der Sonne – weiter zu.Der Patient klagt über dumpfe, in der Tiefe sitzende Schmerzen in Augen und Augenbrauen. Die Krankheit wird durch alle 3 Doshas verursacht und ist als sehr ernsthaft einzustufen. Erleichterung können erhitzende oder kühlende Therapien verschaffen.
ananta-vata-Kopfschmerzen
Auch im Falle der Erkrankung ananta-vata sind alle3 Doshas betroffen: vata, pitta und kapha sind gereizt und ziehen zum Nacken und zum Bereich der Schilddrüse. In der Folge treten sehr starke Schmerzen in Nase, Augenbrauen und Schläfenregion auf, begleitet von Augenschmerzen, Steifheit des Unterkiefers bis hin zur Kiefersperre und einem Gefühl des Reibens bzw. Pulsierens im Bereich der Wangen.
ardhavabhedaka-Kopfschmerzen
Diese Kopfschmerzen äußern sich durch heftigen ziehenden und stechenden Schmerz einer Kopfhälfte, „wie durch das Schneiden mit einer Waffe“. Im weiteren Verlauf kann ardhavabhedaka die Funktion von Augen oder Ohren zerstören. Der Kopfschmerz beginnt plötzlich nach einem Prodromalstadium von 10 bis 14 Tagen, in dem Schwindel und bohrende Schmerzen vorangehen. An der Krankheitsentstehung und -entwicklung sind alle 3 Doshas beteiligt.
shankhaka-Kopfschmerzen
Hier handelt es sich um ausgeprägte Kopfschmerzen mit brennendem Gefühl, Rötung und Schwellung, begleitet von Steifheit des Kopfes und Obstruktion des Rachens. Ursache ist die Reizung von rakta (Blutgewebe) und aller3 Doshas. Dieser Zustand wird als unheilbar beschrieben. Er soll innerhalb von 3 Tagen zum Tod führen.
Die Differenzialdiagnose erfolgt durch Anamnese und körperliche Untersuchung. Anamnestisch werden die Geschehnisse im Vorfeld und Anfang der Erkrankung erfragt, sowie Schmerzverlauf und -charakter. Dann werden Puls, Zunge, Gewebe, Augen, Ausscheidungen und Sprache des Patienten nach Anzeichen der 3 Doshas untersucht. Auch der Allgemeinzustand des Patienten, seine Konstitution sowie seine Verdauungskraft werden beurteilt. Ist die Diagnose nicht eindeutig zu stellen, werden therapeutische Testverfahren eingesetzt, um die Differenzialdiagnose zu klären.
Vermeidung ätiologischer Faktoren
Die ätiologischen Faktoren liegen aus ayurvedischer Sicht im Ernährungs-, Lebens- und Denkmuster des Patienten. Diese werden im Gespräch mit dem Patienten eruiert. Mit der Diagnosestellung erfolgt als Erstes eine gründliche Aufklärung des Patienten über die Wirkungen dieser Alltagsaspekte. Es folgt eine differenzierte, individuelle Ernährungs- und Lebensstilberatung, bei der alle ursächlichen Faktoren angesprochen werden. Es muss im Detail geklärt werden, wie die Ursachen für die Energie-Dysbalance im individuell vorliegenden Fall eliminiert oder zumindest minimiert werden können.
Yogatherapie
Yoga kann eingesetzt werden, um Verhaltens-, Denk-Mundgefühlsmuster bewusst zu beeinflussen und die Energiebalance wiederherzustellen. Je nach Form der Kopfschmerzen wird stärker mit aktivierenden und kräftigenden Körper- und Atemübungen oder entspannenden, lösenden Techniken gearbeitet. Auch Entspannungsverfahren sowie meditative Ansätze sind nachgewiesenermaßen schmerzlindernd.
Stoffwechselanregende Maßnahmen
Jede Erkrankung belastet den Stoffwechsel des betroffenen Patienten. Ist der Stoffwechsel geschwächt, werden ausayurvedischer Sicht auch die Aufnahme und Verwertungvon Heilsubstanzen, der gesunde Aufbau der Gewebe und damit auch der Erhalt der Immunität behindert. Daher ist die Anregung des Stoffwechsels aus ayurvedischer Sicht unerlässlich, um therapeutisch voranzukommen. Auch die besten Heilsubstanzen bringen keinen Erfolg, wenn sie vom System nicht aufgenommen und verstoffwechselt werden. Dazu wird eine etwas reduzierte, warme, leichtverdauliche Kost empfohlen sowie stoffwechselanregende Kräuter wie Pippali oder Ingwer. Studien zu Ingwer bei Kopfschmerzen deuten darauf hin, dass der Einsatz vonIngwer schon therapeutische und prophylaktische Wirkung bei Migräne hat. Differenzialtherapeutisch sollten zu heiße Kräuter bei pitta-, blut- und hitzebedingten Formen eher vermieden werden. Bei Kopfschmerzformen mit einer Dominanz in vata, kapha und mit Schwäche des Stoffwechsels sind stärker erwärmende Kräuter angezeigt.
Hirntonika
Aus ayurvedischer Sicht belasten Kopfschmerzen das Gehirn. Daher ist es bei allen Formen von Kopfschmerzen zentral, das Gehirn wieder zu tonisieren. Dafür werden verschiedene Heilpflanzen eingesetzt, die zu der Gruppe dermedhya-rasayana (Hirntonika) gehören, z. B. Brahmi (Bacopa monnieri) , Ashvagandha (Withania somnifera) , Vaca (Acorus calamus) , Jyotishmati (Celastrus paniculatus) oder Shankhapushpi (Convolvulus pluricaulis). Zu all diesen Pflanzen gibt esaktuelle Studien, die deren analgetische Wirkung nachweisen und z. T. auch auf deren Effizienz bei neuropathischem Schmerz und die Modulation der Schmerzverarbeitung hinweisen.
Dosha-beruhigende Maßnahmen
Zur innerlichen Dosha-Beruhigung gibt es Tausende von Heilkräutern. Aus der umfassenden Materia Medica werden typischerweise mehrere Pflanzen ausgewählt: solche,die die Energetik richtig beeinflussen, solche, die ausgleichend wirken, und solche, die eine spezielle Affinität zu mer wünschten Wirkungsort aufweisen. Von vielen dieser klassisch beschriebenen Pflanzen und Kombinationspräparaten sind analgetische, antiphlogistische, neurostabilisierende und antidepressive Wirkungen inzwischen durchklinische und pharmazeutische Forschungen belegt. Dabei werden je nach Kopfschmerzform unterschiedliche Einzeldrogen oder phytopharmakologische Kombinationen empfohlen. Grundsätzlich werden bei eher hitzigen Kopfschmerzformen kühlende Heilmittel, bei eher kalten Kopfschmerzformen erwärmende Kräuterrezepturen gegeben. Des Weiteren kommen äußerliche Therapieformen zum Einsatz: Wärme, gezielt eingesetzte Kräuterpräparate und Öle sind dabei integraler Bestandteil sämtlicher Anwendungen, die sich als besonders effektiv bei vata- undSchwächezuständen erweisen. Über mehrere Tage oder auch Wochen hinweg sind Behandlungsserien durchzuführen, um die Energetik dauerhaft zu beeinflussen. Besonders wichtig bei Kopfschmerzen sind auch lokale Techniken wie shirodhara (Stirnguss), shirobasti (Kopfbad) undshirolepa (Kräuterauflagen auf den Kopf). Eine Kombination mit der Behandlung über marmani (Vitalpunkten) ist möglich. Je nach Kopfschmerzform werden die eingesetzten Heilkräuter kombiniert sowie die Flüssigkeiten eherölig, milchig oder wässrig ausgewählt. Äußerliche Behandlungen sollten am besten über einen Zeitraum von1–3 Wochen täglich durchgeführt werden, um einen bleibenden Therapieerfolg zu erreichen.
Ausleitende Verfahren und pancakarmaTherapie
Bei großer Kraft der pathologischen Prozesse oder chronischem Geschehen ist eine Ausleitungstherapie indiziert. Je nach betroffenem Dosha kommen unterschiedliche Reinigungstechniken zum Einsatz. Bei kaphaja-Kopfschmerzen wird beispielsweise das therapeutische Erbrechen (vamana), bei pittaja-Kopfschmerzendas therapeutisches Abführen (virecana) und bei raktaja Kopfschmerzen der Aderlass (raktmokshana) als zentraleTechnik eingesetzt. Bei fast allen Kopfschmerztypen, insbesondere aber bei vataja-Schmerzen, sind medizinische Einläufe (basti) indiziert. Besonders effektiv im Kopfbereich sind zudem Therapien über die Nase (nasya).
Die Wirkung der angewendetenVerfahren gilt als sehr stark undnachhaltig, gleichzeitig ist dieseTherapieform für den Patientenaber auch anstrengend, sodassgeschwächte und ausgezehrtePersonen diese nicht durchführensollten.
Funktionelle Kopfschmerzformen wie Migräne, Spannungskopfschmerz oder psychosomatische Formen sind häufig chronisch und hängen im Alltag stark mit Lebensweise, Stress, Schlafverhalten und Ernährung zusammen. In der ayurvedischen Medizin sind diese Einflussfaktoren leicht nachvollziehbar beschrieben. Über die multimodale ayurvedische Therapie kann in der Praxis oft der Patientaktiv in sein Kopfschmerzgeschehen eingreifen und überayurvedische Ernährung, Phytopharmaka sowie innerliche und äußerliche Behandlungen den Kopfschmerz langfristigkombinieren [26]. Reicht eine alleinige ayurvedische Behandlung nicht aus, kann durch die Kombination der ayurvedischen mit den schulmedizinischen Ansätzen oft eine Schmerzbefreiung erreicht werden. Insgesamt sind unerwünschte Begleitwirkungen so deutlich seltener.