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Die āyurvedische Diagnose ist von der schulmedizinischen völlig verschieden, denn sie beruht nicht auf objektiven Parametern und ist nicht auf Strukturelemente fixiert. Damit gibt es keine diagnostischen „Schubladen“, in die man die Symptome einordnen muss, um vernünftig behandeln zu können. Außerdem ist sie verschieden, weil sie nie nur die dargebotenen Symptome, sondern immer auch den Patienten und dessen Umständen betrachtet. Wie hoch der Anspruch an die Gründlichkeit und Tiefsicht der āyurvedisch tätigen Ärzte geht, zeigt das folgende Zitat:
„Jemand, der nicht in das Innere des Patienten mit der Hilfe der Lampe des Wissens und der Intelligenz Einsicht gewinnt,kann Krankheiten nicht erfolgreich therapieren.“— Ca. Sa. Vi. 4:12
Im Ᾱyurveda erfolgt die Untersuchung immer zweifach:
Durch die Doppeldiagnose kann der Arzt Soll-und Ist-Zustand des Patienten vergleichen. Das führt zur Prognose für diese Situation und zur Planung der adäquaten Therapie.
Es gibt viele Möglichkeiten, Patienten zu untersuchen. Gerade auf dem Gebiet der Diagnostik verändern sich die Empfehlungen der Art der Untersuchung im Laufe der Jahrhunderte. In den ältesten Klassikern, der Carakasaṃhitā und der Suśrutasaṃhitā,finden wird vor allem die zehnfache Untersuchung beschrieben.
Erst in den mittelalterlichen Werken wird dazu die Pulsdiagnose und die achtfache empfohlen. Moderne Autoren fassen vielmals Aspekte daraus zusammen, wobei stets die beiden klassischen Untersuchungsformen gelehrt werden.
Diese besteht aus der Betrachtung von zehn Aspekten eines Individuums.
Diese wird aus drei Blickrichtungen angesehen: anatomisch, physiologisch und psychologisch. Interpretiert werden die Beobachtungen im Hinblick auf die doṣas
Die Krankheitsdisposition betrachtet man von zwei Aspekten: seitens der aktuellen Krankheitsgeschichte und seitens der allgemeinen Vorgeschichte. Die Erkrankungen werden im Hinblick auf die Ursache, doṣa, betroffene Gewebe oder Kanalsysteme, Ort, Zeit und Symptome untersucht, denn die Schwere der Symptome kann ohne die Stärke der Verursachung nicht eingeordnet werden. Interpretiert werden sie im Hinblick auf die doṣas und auf die Stärke.
Dazu werden die sieben Gewebe (Plasma, Blut, Fleisch, Fett, Knochen, Mark, Samen) und die Geisteskraft untersucht. Zu jedem Gewebe gibt es klassische Beschreibungen, wie diese sich auswirken, wenn sie gut ausgebildet sind.
Bestimmt werden die Stärke und Widerstandskraft der einzelnen Gewebe sowie das Gewebe, das in seiner Ausprägung im Vordergrund steht.
Dazu nimmt der Arzt eine Einschätzung der Proportionen und des Tonus des Körpers vor. Man ordnet den Körperbau in drei Stufen ein: hervorragend, mittel und schwach.
Dies wird nach dem Fingermaß bestimmt. In den klassischen Texten sind ideale Ausmaße beschrieben. Dadurch, dass das Fingermaß bei jedem Individuum anders ist, gibt diese Art der Messung mehr individuellen Spiel-raum als absolute Maßeinheiten. Interpretiert werden die Körperausmaße in den drei Stufen.
Geeignet ist „das, was kontinuierlich genutzt wird und eine förderliche Wirkung hat“. Dies wird von verschiedenen Seiten her beleuchtet. Welche Lebensmittel verträgt ein Mensch? Welche Geschmacksrichtungen? Welche Temperaturen? Wie viel Toleranz hat er dabei? Interpretiert werden die Vorlieben wieder in den drei Stufen.
Untersucht wird die Verteilung der drei großen mentalen Eigenschaften. sattva ist rein, hell und klar, rajas reizend, dynamisch und agressiv und tamas dumpf, dunkel und hemmend. Je mehr sattva in einem Individuum vorherrscht, desto besser. Interpretiert wird die psychomentale Stärke in den drei Stufen.
Die Essenskraft zeigt die Stärke vom Verdauungsfeuer agni sowie den Appetit. Auch dies wird daher doppelt betrachtet. Einerseits definiert man den Appetit, also die Frage: Wie viel kann der Patient essen? Andererseits schätzt man die Verdauung ein und damit die Frage: Wie viel kann Patient verdauen? Interpretiert wird auch die Essenskraft in drei Stufen.
Wie viel kann ein Patient körperlich leisten? Die Leistungsfähigkeit kann durch Untersuchung der Herzfrequenz, Atemfrequenz und Schweiß nach vorbestimmter körperlicher Leistung beurteilt werden. Oder sie kann erfragt werden. Auch die körperliche Leistungskraft wird in drei Stufen interpretiert.
Beim Alter betrachtet man zum einen die reine Lebenszeit. Je nach Abschnitt (Kind-heit/Jugend — Erwachsenenalter — höheres und hohes Alter) wird es einer doṣa-Domi-nanz zugeordnet. Diese sind von unterschiedlicher Stärke. Auch das wird interpretiert. Und nicht zuletzt wird gesehen, wie der Patient gealtert ist. Scheint er so alt wie er ist? Auch diese wird in drei Stufen interpretiert.
Mittels der zehnfachen Untersuchung kann der Arzt eine Einschätzung über den Zustand des Patienten, sein Potenzial und seine Belastung durch die Erkrankung erkennen.
Wie schon in der Einleitung genannt, ist diese Form der Untersuchung erst im Mittelalter entstanden und findet sich in den mittelalterlichen Werken beschrieben.
Der Puls soll idealerweise morgens früh, vor dem Essen und nach dem Stuhlgang des Patienten untersucht werden. Der Patient soll-
te aufrecht sitzen. Man pulst mit drei Fingern über der A. radialis. Dabei werden Frequenz, Rhythmik, Kraft, Volumen, Amplitude, die Form der Pulswelle und die Spannung der Gefäßwand beachtet.
„Der Puls soll idealerweise morgens früh, vor dem Essen und nach dem Stuhlgang des Patienten untersucht werden. Der Patient sollte aufrecht sitzen.“
Interpretiert wird dies im Hinblick auf die doṣas. Manche interpretieren auch im Hinblick auf den Zustand von agni, dem Verdauungsfeuer, und von bala, der Kraft des Patienten. Dabei liegt ein vāta-Puls vor,
wenn sich dieser klein, schnell, dünn, instabil, unregelmäßig oder rau anfühlt. Ein pitta-Puls wäre weich, dynamisch, heiß, elastisch, regelmäßig, kräftig und mit steilem Druckanstieg. Ein kapha-Puls ist langsam, ölig, feucht, voll und dicht. Sind Schlacken im Körper endet der Puls nicht klar, sondern zittert nach. In manchen Traditionen hat sich der Puls als die einzige Methode der Untersuchung etabliert, weil die Pulsdiagnostik sich sehr stark verfeinern lässt. Dies ist jedoch keine klassische āyurvedische Vorgehensweise, in der der Puls nur eines von acht Merkmalen in der Untersuchung ist.
Die Untersuchung des Urins erfolgt im Hinblick auf Frequenz, Schmerz, Farbe, Volumen, Geruch, Geschmack. Der Urin sollte morgens früh gesammelt werden. Der erste Strahl wird verworfen, der Mittelstrahlurin nach Sonnenaufgang untersucht. Interpretiert wird er hinsichtlich der drei doṣas.
Diese werden auf ihre Frequenz, Schmerz bei der Ausscheidung, Farbe, Konsistenz, Volumen, Geruch und Geschmack untersucht. Auch sie werden in Bezug auf die drei doṣa interpretiert. Außerdem wird überprüft, ob sich in ihnen Schlacken befinden.
Man betrachtet Größe, Farbe, Konsistenz, Risse, Bewegung, Zungenrand und den Belag. Interpretiert wird dies im Hinblick auf die drei doṣas und auf Schlacken im System.
Interpretation der Sprachgeschwindigkeit, des Tonfalles, der Stimme hinsichtlich der der doṣas. Eine vāta-Stimme ist beispielsweise trocken, heiser, leise, schnell oder stotternd. Eine pitta-Dominanz merkt man an den Eigenschaften schrill, klar oder akzentuiert. kapha oder Schlacken führe zu einer dunklen, weichen, melodiösen oder langsamen Sprache.
Der Arzt fühlt den Patienten und interpretiert die Haut, Bauchorgane, Gelenke, aber auch die Veränderungen, die sich ertasten lassen im Hinblick auf die doṣas und auf die Schlacken. vāta ist trocken, rau, kalt, faltig, dünn oder hart, pitta weich, klar, feucht oder geschmeidig und kapha dick, feucht, weich, glatt oder fest.
Untersuchung von Farbe, Beweglichkeit, Feuchtigkeit und Ausdruck der Augen. Diese werden hinsichtlich der doṣas interpretiert. Bei vāta sind sie klein, umherwandernd, ver-
mehrter Lidschlag, trocken oder gemischtfarben. Bei pitta scharf, leuchtend, gezielter Blick, feucht, gerötet oder gelblich und eventuell mit brennendem Gefühl und bei kapha sind sie groß, weiß, sauber, feucht, langsam beweglich und mit einem vermehrten Tränenfluss.
Hier wird unter anderem der allgemeine Eindruck und Ernährungszustand beobachtet. Auch diese werden hinsichtlich der doṣas interpretiert.
Erst der zweite, klassische Aspekt der Untersuchung betrifft die Erkrankung. Immer sollte der āyurvedische Arzt zunächst den Patienten verstehen. Danach erst kommt die Krankheit. In der Praxis kommt schon viel über die Krankheit bei der Untersuchung des Patienten hervor, sodass sich die Untersuchung von Patient und Erkrankung nie hundertprozentig trennen lassen. Die klassischen Krankheitsuntersuchung wird die Krankheit mittels der „fünffachen Untersuchung der Ursachen“. Diese umfasst die folgenden fünf Gesichtspunkte:
Zunächst wird versucht, die kausativen Faktoren, die die Erkrankung im Hinblick auf die doṣas, die Gewebe und die Kanalsysteme hervorgerufen haben, zu finden und zu benennen. Dies ist ein zentraler Schritt, weil die Verhinderung des weiteren Einwirkens der verursachenden Faktoren die Einleitung der individuellen Therapie ist. Beachtet man dies nicht, kann der Krankheit der Boden nicht entzogen werden.
Zu jeder Erkrankung werden typische Krankheitsvorzeichen beschrieben. Erkennt man diese und behandelt sie gleich, kann schon bevor die Krankheit sich voll ausgebildet hat, eine adäquate Therapie erfolgen. Oft kann man aus den Vorzeichen erkennen, welcher doṣa primär betroffen war. Auch die Prognose ist an den Vorzeichen erkennbar, insbesondere durch deren Persistenz im Verlauf.
Durch die Kombination von Krankheitssymptomen können differenzialdiagnostische Überlegungen erfolgen: Je nachdem, welche Symptome dominant sind oder in welcher Folge sie auftreten, können unterschiedliche
Erkrankungen vorliegen. Diese würden jeweils eine andere Differenzialtherapie erfordern.
Anhand der Pathogenese kann man auch eine Erkrankung erkennen. Durch sie wird die Ursachenkette sichtbar. Damit wird die Differenzialdiagnose klarer und man kann zu einem früheren Zeitpunkt mit der spezifischen Therapie beginnen. Je genauer die Entstehung der Erkrankung verstanden wird, desto differenzierter kann man behandeln.
Manchmal kann man trotz Untersuchung der Ätiologie, Vorzeichen, Symptome und Pathogenese die Krankheit nicht eindeutig diagnostizieren. Wenn der Arzt nicht sicher ist, sollte er diagnostische Testverfahren anwenden. Dazu wird ein gezielter therapeutischer Impuls gesetzt, der in seiner Ausprägung dergestalt ist, dass die Reaktion darauf die Differenzialdiagnose voranbringt. Geht es dem Patienten nach diesem Impuls besser, dann ist deutlich, zum Beispiel welcher doṣa bei dieser Erkrankung im Vordergrund steht.
Untersuchungsmethoden stellen dem Arzt noch nicht die Diagnose. Aus den Erkenntnissen der zehnfachen und achtfachen Untersuchung für die Kraft des Patienten und der fünffachen Diagnostik der Krankheiten für die Art und Kraft der Erkrankung sollte am Ende eine Diagnose herauskommen. Diese kann im einfachsten Falle die einer vorbeschriebenen Erkrankung sein wie etwa Harnsteine oder Husten. Meist ist es jedoch nicht so einfach:
„Derjenige, der eine Krankheit nicht mit einem Namen benennen kann, sollte sich nicht schämen, weil nicht alle Krankheiten mit einem Namen ausgezeichnet sind.“ — Ca. Sa. Sū. 18: 44
Der Grund dafür ist, dass der gleiche veränderte doṣa verschiedene Krankheiten je nach Ätiologie und Ort der Erkrankung hervorrufen kann. Daher kann man im Ᾱyurveda — anders als in der Schulmedizin — sich von den klassisch beschriebenen Krankheitsbildern lösen und eine beschreibende Diagnose bei jeder Art der Störung entwickeln:
„Deshalb sollte man die Therapie einleiten, wenn man vollkommenes Verständ nis über die Natur der Erkrankung, Stelle der Erkrankung und ursächliche Faktoren erlangt hat.“— Ca. Sa. Sū. 18: 45—46
Wichtig für die korrekte āyurvedische Diagnose ist damit das Festhalten der folgenden Aspekte:
Feststellen der Konstitution im Hinblick auf die doṣas. Auch auf die Eigenschaften des Geistes hin sollte die Konstitution bestimmt werden. Dazu sollte deutlich werden, in welchem Zustand sich die Verdauungsfeuer (agnis), die Immunkraft (ojas/bala) und der Prozess der Alterung befinden. Diese Aspek-te sollte jedem āyurvedischen Arzt durch die Untersuchungen eindeutig klar geworden sein.
Durch die Diagnostik der Erkrankung findet der Arzt heraus, ob die Erkrankung zu einem klassisch beschriebenen Krankheitsbild passt. Dann wäre die Beschreibung der Erkrankung in weiteren Details nicht mehr nötig, weil dies bereits klassisch erfolgt ist. Ist das nicht der Fall, braucht der Arzt die diagnostische Klarheit über die Ursachen der Erkrankung, die Pathogenese, die betroffenen Gewebe, Organe und Biokanalsysteme, das Vorhandensein von Schlacken sowie über das Stadium der Erkrankung. Dazu sollte er stets auch den Einfluss der Umgebung auf das Patienten-Krankheits-System bedenken wie etwa Veränderungen durch die Eigenschaften des Landes, der Zeit, des Wetters oder des Klimas. Anschließend kommt die weitere Differenzierung in Hinsicht auf:
Der Erfolg desjenigen, der eine Therapie ohne Diagnose der Erkrankungen beginnt, ist zweifelhaft, auch wenn er im Wissen über Kräuter und Therapien sehr bewandert ist.“— Bh. Pr. Pū. 6:16
Die āyurvedische Diagnostik ist differenziert. Es erfolgt stets eine Doppeldiagnostik, um einerseits den Patienten mit seiner Konstitution, seiner Krankheitsneigung und seinem körperlich wie geistigem Funktionieren zu verstehen, andererseits die Erkrankung mit ihrer Verursachung, Pathogenese, Vorzeichen und Symptomen zu erkennen. Zur weiteren differenzialdiagnostischen Methodik gehören therapeutische Testverfahren. Die āyurvedische Diagnose hängt nicht von vor beschriebenen Krankheitsentitäten ab, sondern kann flexibel für jede Art der Störung eingesetzt werden. In Abhängigkeit von der differenzierten āyurvedischen Diagnose kann die Therapie frühzeitig und spezifisch ausgewählt und eine Prognose bestimmt werden.
— Dr. med. Hedwig H. Gupta