Der Āyurveda (wörtlich übersetzt: „Wissenschaft vom Leben“) ist eine vor über 2000 Jahren entstandene und seither durchgehend praktizierte wissenschaftliche Heilkunde. Der Āyurveda entstand und entwickelte sich über Jahrhunderte im Rahmen der altindischen Hochkultur wie eine umfangreiche āyurvedische Fachliteratur aus den vergangenen rund 2000 Jahren dokumentiert. Heutzutage wird Āyurveda in Südasien, insbesondere in Indien, Nepal und Sri Lanka, als medizinisches System auf wissenschaftlicher Basis an Universitäten und Colleges gelehrt und ist staatlich anerkannt. Das bedeutet etwa, dass Āyurveda-Ärzte dort, ebenso wie Ärzte der modernen naturwissenschaftlichen Medizin, ein eigenständiges Hochschulstudium durchlaufen und in eigenen Ärztekammern organisiert sind. Auch gibt es umfangreiche Forschungsaktivitäten im Rahmen der Āyurveda-Medizin. In den vergangenen Jahrzehnten erfreut sich Āyurveda weltweit wachsender Beliebtheit, insbesondere in Europa und Deutschland. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erkennt den Āyurveda als „traditionelle Medizin“ an und die Mitgliedsstaaten der WHO haben sich wiederholt (zuletzt 2013) dazu verpflichtet, im Interesse der Gesundheit ihrer jeweiligen Bevölkerung traditionelle Medizin zu fördern. 

Die āyurvedische Heilkunde umfasst neben präventiven Ansätzen ein umfangreiches traditionelles Diagnostik- und Therapiesystem. Im Fokus steht immer der Mensch mit seinen individuellen Bedürfnissen. 

Grundlagen des Āyurveda

Dem Āyurveda liegt ein eigenes wissenschaftliches System zugrunde, auf dessen Grundlage Diagnostik, Therapie und auch Empfehlungen zur Prävention erfolgen. Dabei integriert der zeitgenössische Āyurveda auch Erkenntnisse der modernen Medizin und Naturwissenschaften. Eine fundierte Einführung in die Wissenschaft des Āyurveda bietet dem modern ausgebildeten Arzt damit eine Erweiterung seiner klinischen und therapeutischen Perspektiven und eine zusätzliche Möglichkeit individuell auf seine Patienten einzugehen. 

Einige ausgewählte Grundkonzepte des Āyurveda seien im Folgenden dargestellt.

Von besonderer Bedeutung für die āyurvedische Physiologie, Pathophysiologie und Nosologie ist die Lehre von den so genannten drei Doṣa-s (sprich: Dohscha). Dabei geht man davon aus, dass im Menschen drei Kräfte wirken, die Vāta, Pitta und Kapha genannt werden und verschiedenen Funktionen erfüllen. Aus physiologischer Sicht reguliert Vāta im Menschen alle Vorgänge der Bewegung und Beweglichkeit, auf körperlicher Ebene (z. B. Darmbewegung, Atembewegung) wie auch auf mentaler Ebene (z. B. geistige Beweglichkeit). Pitta wirkt in Prozessen der Umwandlung und Verwertung wie etwa in Verdauung und Stoffwechsel aber auch in der Verwertung von Lerninhalten. Kapha schließlich zeigt sich in Struktur und Stabilität auf körperlicher (z. B. in der Stabilität der Gelenke) wie auf psychisch-mentaler Ebene (z. B. in Geduld und Langzeitgedächtnis). Die drei Doṣa-s wirken sich also in allen Lebensvorgängen auf physischer, mentaler und emotionaler Ebene aus. Ihre jeweilige Ausprägung im Menschen bestimmt zudem die individuelle Grundkonstitution des Einzelnen, wenn die Doṣa-s in ein Ungleichgewicht geraten, beginnen Krankheitsprozesse und schließlich werden auch manifeste Erkrankungen nach den jeweils betroffenen Doṣa-s klassifiziert. Für die praktische Arbeit mit den Doṣa-s in Diagnose und Therapie wird ein subtiles qualitatives Denken gelehrt. Das bedeutet etwa, dass den Doṣa-s Eigenschaften zugeordnet werden, mithilfe derer man die Wirkung aller erdenklichen äußeren und inneren Einflüsse auf die jeweiligen Doṣa-s erklären kann. In Prävention und Therapie geht es dann darum, das individuelle Gleichgewicht der Doṣa-s zu erhalten bzw. wiederherzustellen.     

Neben diesen und anderen Anschauungen zur Physiologie hat der Āyurveda auch einen eigenen Blick auf die Anatomie des Menschen. So werden etwa sieben verschiedene Arten von Geweben beschrieben, die in einem komplexen metabolischen Prozess miteinander in Verbindung stehen. Die Funktion sowie Stärke und Schwäche des Immunsystems stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit diesem metabolischen Prozess. Die inneren Organe werden im Rahmen von funktionell-anatomischen Strukturen beschrieben und eine Anzahl „vitaler Punkte“ (Marman) des menschlichen Körpers spielt eine besondere Rolle bei diagnostischen und therapeutischen Überlegungen.  

Eine umfassende Diagnostik ist ein wichtiger Bestandteil der āyurvedischen Wissenschaft. Grundsätzlich kann man das diagnostische Vorgehen im Āyurveda in zwei Aspekte teilen nämlich 1. die „Diagnostik des kranken Menschen“ (Sanskrit: Rogi-parīkṣā) und 2. die „Diagnostik der Krankheit“ (Roga-parīkṣā). Zum ersten Aspekt gehören etwa eine Einschätzung der Grundkonstitution eines Menschen, seiner Verdauungs- und Abwehrkraft. Zum zweiten Aspekt zählt einerseits eine feine Diagnostik der jeweiligen Erkrankung einschließlich ihrer Symptomatik, der prodromalen Symptome, ihrer Ursachen etc. Andererseits verfügt der Āyurveda über eine differenzierte Krankheitssystematik zur Einordnung der jeweiligen Erkrankung. Auch hier spielt die Lehre von den drei Doṣa-s eine prägende Rolle. Neben gründlicher Anamnese und körperlicher Untersuchung nach āyurvedischen Kriterien kennt der Āyurveda etwa auch eine spezifische Pulsdiagnose.    

Die āyurvedische Therapie hat nach traditioneller Lehre zwei Hauptziele: 

1. Gesundheitsförderung

Die Erhaltung und Förderung der Gesundheit auf allen Ebenen des menschlichen Seins ist von alters her ein wichtiger Zweck der āyurvedischen Wissenschaft. In diesem Bereich gibt es vielfältige Empfehlungen zu Ernährung, gesundheitsförderndem Verhalten und gegebenenfalls auch stärkenden und stabilisierenden Arzneien. Charakteristisch für den Āyurveda ist, dass auch diese Empfehlungen sich stets am Individuum orientieren müssen, an der individuellen Grundkonstitution ebenso wie an der Krankheitsgeschichte, den sozialen, emotionalen und mentalen Gegebenheiten des einzelnen Menschen.   

2. Behandlung von Erkrankungen

Wenn eine Erkrankung besteht, bietet der Āyurveda eine Vielzahl von therapeutischen Möglichkeiten. Voraussetzung für eine sinnvolle āyurvedische Therapie ist eine gründliche Diagnostik. Auf der Basis der Diagnostik kommen dann vielfältige therapeutische Methoden zum Einsatz. So umfasst die āyurvedische Therapie:

  • Ernährungstherapie. Diese muss individuell und krankheitsbezogen sein.
  • Empfehlungen zur Lebensweise. Dieser Bereich umfasst „ordnungstherapeutische“ Empfehlungen, „Bewegungstherapie“ aber auch spezifische Hinweise zu geistiger Disziplin oder verhaltenstherapeutischen Maßnahmen etwa in der Behandlung psychischer Dysbalancen.   
  • Arzneimitteltherapie. Zum Āyurveda gehört eine vielfältige und systematische Arzneimittellehre. Insbesondere die āyurvedische Phytotherapie ist hier von großer praktischer Bedeutung.  
  • Ausleitende Therapieverfahren und physikalische Therapie. Am bedeutendsten heutzutage ist das so genannte Pañcakarman („Fünf Behandlungen“), ein umfassendes Therapieverfahren, welches ausleitende Therapieverfahren (z. B. einen Abführtag) mit Behandlungsverfahren zur Krankheitstherapie und Stärkung verbindet. In diesen Bereich gehören auch physikalische Therapieverfahren wie eine Vielzahl von speziellen Teilkörper- und Ganzkörperanwendungen mit medizinierten Ölen ebenso wie vielfältige Wärmeanwendungen. Auch die sachgerechte, sanfte Behandlung über so genannte Vitalpunkte (Marman, s. o.) gehört in diesen Bereich.  
  • Chirurgische Verfahren, die in historischer Zeit einen wichtigen Bestandteil der Āyurveda-Medizin darstellten, haben im zeitgenössischen Āyurveda nur noch sehr geringe Bedeutung, etwa in der Behandlung von Analfissuren.

Āyurveda in Wissenschaft und Forschung

Seit Langem wird Āyurveda auch wissenschaftlich erforscht. Die philologische und medizinhistorische Erforschung des Āyurveda schaut bereits auf eine über hundertjährige Tradition zurück. In den letzten Jahrzehnten haben sich in zunehmender Zahl auch Ethnologen und Sozialwissenschaftler insbesondere der Erforschung der heutigen Praxis des Āyurveda zugewandt. Ebenfalls seit Jahrzehnten erfolgt die pharmakologische Erforschung āyurvedischer Arzneien. Im Hinblick auf die klinische Forschung des Āyurveda gibt es allerdings einen deutlichen Nachholbedarf. Die Anzahl hochwertiger Wissenschaftspublikationen in internationalen medizinischen Fachzeitschriften bezüglich Āyurveda ist noch recht überschaubar. Trotz sichtbarer Fortschritte, einer zunehmenden globalen Forschungsaktivität zu Āyurveda und einiger wegweisender Publikationen hinsichtlich der Wirksamkeit von Āyurveda bei chronischen Erkrankungen (stellvertretend sei hier genannt: Kessler et al. 2018. Effectiveness of an Ayurveda treatment approach in knee osteoarthritis - a randomized controlled trial. Osteoarthritis and Cartilage 30: 1-11) gibt es noch zahlreiche offene Forschungsfragen. 

Warum Āyurveda?

Während unsere moderne „Schulmedizin“ ihre Stärken besonders auf den Gebieten der präzisen, objektivierbaren und quantifizierbaren Diagnostik auch kleinster Strukturelemente hat sowie vor allem in der Akut-, Intensiv- und operativen Medizin aufgrund ihrer gezielten und hochpotenten Therapieverfahren unersetzlich ist, ist der Āyurveda im Verständnis komplexer Zusammenhänge und der Integration körperlicher, psychosozialer und spiritueller Aspekte stark. Im Āyurveda wird viel Wert auf Prävention und Regeneration gelegt, er besitzt ein breites und differenziertes Spektrum von sanften, verhältnismäßig nebenwirkungsarmen, therapeutischen Möglichkeiten und führt Patienten gezielt in eine eigenverantwortliche und selbstwirksame Rolle. 

Für Mediziner lassen sich āyurvedische Grundkonzepte rasch erlernen und in die allgemeine Praxis integrieren. Die Erfahrung in der Praxis zeigt, dass Patienten sehr positiv reagieren, wenn Ihnen konkrete und insbesondere auch individuelle Empfehlungen für den Alltag mitgegeben werden, die sie selbst durchführen bzw. mitgestalten können.

Aus der Praxis

Leistungen der Āyurveda-Medizin sind in Deutschland bislang kein Bestandteil des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung. 

Bei privatärztlichen Abrechnungen müssen āyurvedische Behandlungen vielfach über so genannte Analogziffern dargestellt werden. Das Hufeland-Verzeichnis gibt Anhaltspunkte für diese Form der Abrechnung.

Das Interesse der PatientInnen an Āyurveda nimmt in den letzten Jahren in Deutschland kontinuierlich zu. Derzeit praktizieren ca. 500 Ärzte Āyurveda in Praxen und Kliniken. 

Kontaktadressen von praktizierenden Āyurveda-Ärzten findet man auf der Website der Deutschen Ärztegesellschaft für Ayurveda-Medizin e. V. (www.daegam.de).  

Ausbildungswege

Gegenwärtig werden systematische Ausbildungen in Ayurveda-Medizin in Deutschland von einer Reihe privater Institutionen angeboten. Voraussetzung ist dabei eine ärztliche Approbation in Deutschland, die meisten Institutionen bieten auch Medizinstudenten schon die Möglichkeit mit einer Ausbildung zu beginnen. Um Āyurveda mit dem Ziel der Behandlung oder Prävention anwenden zu können bedarf es der ärztlichen Approbation. 

Die Ausbildungsgänge sind bei den verschiedenen Ausbildungsinstitutionen unterschiedlich strukturiert. Um hier eine Standardisierung und Qualitätssicherung zu fördern, hat die Deutsche Ärztegesellschaft für Ayurveda-Medizin Qualitätskriterien zu Umfang und Inhalten einer Ayurveda-Ausbildung für ÄrztInnen entwickelt (zum Download bei www.daegam.de) und einige Institute haben sich bereits nach diesen Kriterien zertifizieren lassen.  

Je nach Ausbildungsträger tragen die Abschlüsse unterschiedliche Bezeichnungen. Anerkannte Abschlüsse erkennt man am DÄGAM-Zertifikat für die jeweilige Ausbildung. 

Weitere Informationen:

Deutsche Ärztegesellschaft für Ayurveda-Medizin e. V. (DÄGAM, www.daegam.de)

Ausbildungsinstitute, deren Ayurveda-Ausbildung nach den Kriterien der DÄGAM zertifiziert sind:

Rosenberg Europäische Akademie für Ayurveda, Birstein (www.ayurveda-akademie.org)

Sonne & Mond-Gesundheitszentrum, Berlin (www.sonneundmond.com)

vidya sāgar – Akademie für Āyurveda und Yogatherapie, Asperg (www.vidya-sagar.de)

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