Der Āyurveda ist heute im gesamten zentralasiatischen Raum als offizielles Medizinsystem verbreitet, wird von der WHO anerkannt, weltweit gelehrt und praktiziert. Seine Wurzeln gehen auf die Jahrtausende alte vedische Tradition zurück. Bis heute beruft man sich auf die Grundlagenlehrbücher Carakasaṃ hitā, Suśrutasaṃ hitā und Aṣṭāṅgahṛdaya, die ca. 2000 Jahre alt sind. Eine reiche Fülle an Literatur ist seither erschienen. Sie erklärt und differenziert die unverändert geltenden Grundprinzipien aus den antiken Werken. Die konventionelle Schulmedizin hat sich in den letzten 100 Jahren rasant entwickelt, wurde immer stärker spezialisiert und konnte immer feinere mikrobiologische Differenzierungen vornehmen. Dadurch wurden allerdings die Zusammenhänge durch komplexe Einflüsse des Lebens nicht gerade besser darstellbar. Daher kann es sich in der klinischen Praxis durchaus lohnen, den Blick wieder zu weiten, um organübergreifende, psychosoziale, klimatische oder ernährungsabhängige Faktoren sowohl der Pathogenese als auch der Therapie mit in die Patientenbetreuung einzubeziehen. Ein System mit einem solchen integrativen Konzept ist der Āyurveda.

Āyurvedisches Verständnis

Während man sich schulmedizinisch bis heute mit der Leib-Seele-Problematik schwertut, kennt der Āyurveda eine grundsätzliche Trennung von geistig-emotionalen und körperlichen Prozessen nicht. Der Āyurveda geht davon aus, dass alle Funktionen in einem Individuum – körperliche ebenso wie psychomentale – von kybernetischen Kräften kontrolliert und beeinflusst werden. Diese werden „doṣas“ genannt. Man unterscheidet 3 doṣas, die jeweils unterschiedliche Aufgaben und Funktionen unterhalten.

Der erste doṣa heißt vāta und ist zuständig für Kontrolle, Bewegung, Impulse und Taktung. Dabei ist es dem āyurvedischen Arzt gleich, ob es sich bei der Bewegung um die Herzfrequenz, Darmpropulsion, Muskelaktivität oder um Gedankenkreisen handelt. Dies sind nur unterschiedliche Stellen, an denen die Funktion des doṣa vāta erkennbar sind. Einen doṣa erkennt man an der von ihm beeinflussten Funktion und an seinen Eigenschaften: vāta wird als leicht, trocken, fein, instabil und kalt beschrieben. Vermehrt sich ein doṣa in einem Individuum, so vermehren sich die dem doṣa innewohnenden Eigenschaften. Ätiologisch erklärt man die Zunahme des doṣa durch das vermehrte Einwirken von Aspekten im Leben, die die gleichen Eigenschaften haben wie der doṣa selbst. Diese Eigenschaften können überall im Leben vorkommen: in der Ernährung, im Wetter oder dem Klima oder in der Gedanken-, Lebens- und Gefühlswelt des Betroffenen.

Der zweite doṣa, pitta, ist feurig. Er ist zuständig für alle Prozesse, die mit Wärme, Farbbildung und Verdauung zu tun haben: Verdauen von Licht, Nahrung, Erlebnissen oder Fakten. pitta ist heiß, scharf, durchdringend, leicht flüssig, farbig und klar. Auch für pitta gilt, dass die Zunahme seiner Eigenschaften im Leben zu einer Zunahme von pitta im Individuum führt – was das System aus der Balance bringen und Krankheiten verursachen kann.

Der dritte doṣa, kapha, ist zuständig für Befeuchten und Stabilisieren. Er ist schwer, fettig bis feucht, dicht, sanft, süß und kalt.

Jeder Mensch hat alle drei doṣas in sich. Im gesunden Zustand des individuellen Gleichgewichts sind sie ausgewogen, allerdings nicht in gleichen Anteilen vorhanden. Vermehrt sich einer der doṣas durch den vermehrten Einfluss von Faktoren mit gleichartigen Eigenschaften, dann führt das zur Erkrankung.

Fallbeispiel

Anamnese

Eine 19-jährige Schülerin stellt sich auf Wunsch ihrer Eltern in der āyurvedischen Praxis vor. Sie leidet seit 3 Jahren an einem ausgeprägten Schmerzsyndrom mit Bewegungseinschränkung beider Hände und Finger, sodass Alltagstätigkeiten wie Schreiben, An- und Auskleiden, Türöffnen etc. nicht möglich sind. Behandlungsversuche mit Schmerzmitteln, Antidepressiva und wochenlanger Ruhigstellung im Gips waren ohne anhaltenden Erfolg geblieben. Schriftliche Examina wurden in den letzten Jahren meist mündlich testiert. Nun steht das Abitur an und die junge Frau kann nur mit hohen Dosen an nicht steroidalen Antiphlogistika in Kombination mit Morphinen unter Schmerzen mit einer mikrografischen Krakelschrift schreiben.

Sozialanamnestisch hat sie einen älteren Bruder, der akademisch wie menschlich ein unerreichbares Vorbild zu sein scheint, liebevoll zugewandte Eltern, die akademische Leistungen für selbstverständlich halten, und ist selbst trotz der Einengung ihrer Gedankenwelt auf „lebensphilosophische Themen“ in einem großen Freundeskreis integriert. In der Kindheit war die Patientin mit ihrer Familie öfter weit umgezogen. Die Schmerzerkrankung begann kurz nach der von ihr initiierten Trennung von ihrem ersten Partner im Herbst vor 3 Jahren. Es kam zu einer Lebenskrise mit suizidalen Gedanken – die seither das Denken weiter bestimmen. Durch die körperliche Krankheit zusätzlich eingeschränkt, glitt die Schülerin zunehmend in ein Gefühl der schuldbeladenen Ohnmacht und Nutzlosigkeit.

Untersuchung

Die junge Frau kommt in das Erstgespräch in alten, unmodischen Kleidern. Sie hat einen fahlen Hautton, trüben Blick und eine eintönige Stimme. Sie ist aber wach und orientiert, jedoch mit eingeschränktem Interesse und reduzierter emotionaler Schwingungsfähigkeit.

Bei der körperlichen Untersuchung zeigen sich massive Schulter-Nacken-Verspannungen mit einer deutlichen Fehlspannung der gesamten Schulter-Arm-Muskulatur. Die Haut ist kalt und trocken, die Nägel sind rissig und die Haare trocken. Die Beweglichkeit der Finger und Hände ist auf wenige Grad schmerzbedingt eingeschränkt, bei Bewegung kann am Handgelenk dorsal wie palmar ein deutliches Schneeballreiben und eine leichte Überwärmung ertastet werden. Der Puls ist klein, trocken und hart mit maximaler Ausprägung am mittleren Tastpunkt. Die Zunge bleich und kurz mit Zahneindrücken.

Schulmedizinische Diagnose

Es wurden eine depressive Episode sowie ein ausgeprägtes Schulter-Arm-Syndrom mit einer chronischen Tendovaginitis der Streck- und Beugesehnen beidseits festgestellt.

Āyurvedische Pathogenese in diesem Fall

Die junge Frau ist von ihrer Konstitution her pitta-dominant. Das bedeutet, dass pitta in ihrem gesunden Gleichgewicht führend ist. Sie ist intelligent, möchte Dinge richtig machen und hat Vorstellungen dazu, was das von ihr verlangt. Sie ist in ihrem pitta weiter angeheizt durch die Ursprungsfamilie, in der einerseits Eltern und Geschwister Tugenden hervorragend vorleben und andererseits hohe Leistungen verlangt werden. Gleichzeitig ist ihr pitta aber auch belastet. Sie kann an die Errungenschaften der anderen nicht herankommen, und eigene Leistungen werden nicht honoriert. Soziale Leistungen – wie das Erarbeiten eines großen Freundeskreises trotz der Depression – werden nicht anerkannt. Mit der Trennung von dem ersten Partner hat die Patientin weiterhin ihr pitta gestört, denn sie hat ihm und sich selbst Leid zugefügt – und damit aus ihrer Sicht schon wieder versagt.

Das gestörte pitta reizt in der Folge vāta: Die Patientin verlangt mehr und mehr von sich und erschöpft sich selbst. Das wirkt trocknend, und daher wird in der Folge vāta verstärkt. Die wiederholten Umzüge, die Pubertät und der Herbst verstärken weiterhin den doṣa vāta.

Durch die Störung des pitta und die Reizung von vāta wird aus āyurvedischer Sicht der Stoffwechsel gestört: Es entstehen unvollständig abgebaute Metaboliten, die einen reizenden, säuernden Charakter haben.

Das Gemisch aus gestörtem pitta, gereiztem vāta und den Stoffwechselmetaboliten zieht durch Biokanalsysteme der Patientin und setzen sich an Sollbruchstellen im System fest. In diesem Fall sitzen diese im muskuloskelettalen System, insbesondere in den Schultern und Händen, und im prāṇatragenden System, das den Atem und die geistig-emotionalen Aspekte betrifft. Hier setzen sich die doṣas und die reizenden Metaboliten fest und sorgen für die Entstehung von Schmerz, Fehlspannung, Entzündlichkeit und Negativität.

Ziele der āyurvedischen Behandlung

Das Ziel der Behandlung ist immer zuerst, die Patientin zu kräftigen und in ihrer Konstitution zu stärken. Dann sollen die verursachenden Faktoren vermindert und der Stoffwechsel soll wieder so stabilisiert werden, dass die unvollständig abgebauten Metaboliten wieder verbrannt werden und so den Reiz aus dem System holen. Danach werden die doṣas ausgeglichen und die Immunkraft wieder gestärkt.

Āyurvedische Therapie

Das Verhindern der Ursache ist immer der erste Schritt in einer āyurvedischen Behandlung. In diesem Falle sind einige Ursachen nicht zu verhindern. Der auslösende Herbst, die Umzüge, die Pubertät, der Leistungsdruck, all dies sind Dinge, die zwar als ursächlich anzusehen sind, aber nicht geändert werden können. Was aber verändert werden kann, ist die Schuldzuweisung, mit der die Patientin sich quält, und die Selbstausquetschung, die den pathologischen Prozess aufrechterhalten. Insofern beginnt in diesem Falle die Behandlung mit einer Art „āyurvedischem Reframing“. Der Patientin wird gezeigt, wie sie sich verhalten und mit sich umgehen sollte, um ihr pitta harmonisch zu halten. Dafür werden Techniken erarbeitet wie Selbstermutigung, Selbstanerkennung, Selbstfürsorge etc.

Bei der philosophisch interessierten Patientin lässt sich das gut mit dem Erklären der philosophischen Hintergründe des Āyurveda kombinieren, die das geistige Grundkonzept, das zu Selbstperfektionismus, aber auch zu Selbstablehnung und Suizidalität führt, anders einzuordnen helfen und damit Wege aus der emotionalen Krise aufzeigen.

Um den Stoffwechsel wieder zu aktivieren und dafür zu sorgen, dass vollständig verstoffwechselt wird, werden Ernährungsprinzipien besprochen. Zentral sind einfache Anweisungen wie das Essen bei Hunger (das ganz nebenbei auch ein Aspekt der Selbstfürsorge ist), Essen von warmen, feuchten, würzigen Speisen, vor allem möglichst morgens einen warmen Porridge und abends eine warme Suppe.

Das fördert den Stoffwechsel, verbrennt die Metaboliten und beruhigt zusätzlich den doṣa vāta durch die Anwendung gegensätzlicher Eigenschaften. Das wird kombiniert mit den allgemeinen Empfehlungen zur Gesunderhaltung. In erster Linie muss eine Morgenroutine etabliert werden, die den Stoffwechsel fördert und Metaboliten abbaut. Dies erfolgt über heißes Wasser trinken am Morgen, Ölziehen, Nase ölen, den Körper massieren und warm duschen. Auch diese Techniken gehören zur Selbstzuwendung, die aus Sicht des Āyurveda notwendig ist, um den pathologischen Prozess zu durchbrechen.

Eine regelmäßige Yoga-Praxis mit Übungen zur Erdung, Drehhaltungen und Übungen für Schultern und Ellenbogen zur Lösung der verspannten Muskulatur sind sinnvoll, um vāta weiter zu vermindern und spezifisch auf das betroffene System – das Muskel-Skelett-System – einzuwirken. Atemübungen wie die Wechselatmung werden eingesetzt, um das zweite System, die prāṇa-tragenden Kanäle, zu kräftigen. Weiter sind für die Patientin einfache Meditationsübungen mit Lichtmeditation und Visualisierungen indiziert. Der therapeutische Yoga ist zwar ein vom Āyurveda unabhängiges System, wird aber wie in diesem Falle oft und leicht in ein āyurvedisches Therapiekonzept integriert.

Um die doṣas weiter zu harmonisieren, den Schmerz zu lindern und die Patientin zu kräftigen, werden einfache Phytopharmaka eingesetzt. Der Āyurveda hat eine große und differenzierte Materia medica, von denen viele Substanzen und Kombinationen in diesem Fall sinnvoll einzusetzen wären. Für diese Patientin wurden zunächst 3 Präparate ausgesucht: Withania somnifera, āśvagandhā, eine Pflanze, die sowohl vāta-beruhigend als auch spezifisch schmerzlindernd und muskelentspannend ist. Bacopa monnieri, brāhmī, ein Psychotonikum, das ebenfalls schmerzlindernd, vāta-beruhigend und verdauungsfördernd wirkt.

Dazu wurde daśamūla, eine Kombination von 10 Wurzeln, eingesetzt, um den Schmerz und die Entzündlichkeit zu vermindern und die Patientin zu erden.

Ergebnis

Die Patientin war nach einer Behandlungszeit von 3–4 Monaten deutlich gebessert. Sie konnte die Depressivität und das Gefühl der Schuldhaftigkeit hinter sich lassen. Sie lernte, die Muskeln im Schulter-Arm-Bereich bewusst zu entspannen und so die lokale Dauerreizung zu beenden.

Heute ist sie seit mehreren Jahren völlig schmerzfrei und auf allen Ebenen belastungsfähig. Wäre diese Therapie nicht hinreichend gewesen, wäre nicht nur eine weitere Intensivierung der Phytotherapie möglich gewesen, sondern auch ein Einsatz der komplexen Überwärmungs- und Massagetechniken und evtl. auch eine Ausleitungsbehandlung indiziert.

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