Die Ernährungsmedizin ist eine der zentralen Säulen des āyurvedischen Therapiebaumes. Die Ernährung wird im Āyurveda auch „mahauṣadhi“ genannt, die „Große Medizin“, weil durch eine falsche Ernährung schnell Erkrankungen entstehen und ganz ohne Nahrung der Tod eintritt. Auf der anderen Seite werden Menschen durch die gesundheitsfördernde Ernährung kräftig, voller Ausstrahlung und gesund.

Im Artikel „Logik der āyurvedischen Ernährung“ im vergangenen Jahr wurden bereits die Prinzipien des Verständnisses der Wirkung von Nahrung und der anderen Substanzen erklärt1.

Dieser Artikel vertieft die Prinzipien der āyurvedischen Ernährungsmedizin weiter.

āhārakāla - richtige Zeit für Nahrung

Aus āyurvedischer Sicht ist nicht nur zentral, was der Mensch ist. Der Zeitpunkt für die Nahrungsaufnahme ist von großer Wichtigkeit. Isst ein Mensch kurz nach einer Mahlzeit wieder, so ist das Verdauungsystem noch nicht in der Lage, die Mahlzeit sauber zu verstoffwechseln. Die schon angedaute und die neu dazu gekommene Nahrung lassen sich in dem einen Magen nicht trennen, so dass ein Teil der Nahrung zu lange, ein anderer Teil des Speisebreis zu kurz im Magen verbleibt. Daher entstehen unvollständig verstoffwechselte Metabolite. Diese werden im Āyurveda „āma“ genannt. Sie haben reizende, klebrige und saure Eigenschaften und führen zu Entzündlichkeit und Schwere.

Daher empfiehlt die āyurvedische Medizin, nach der Einnahme einer Mahlzeit wieder so lange zu warten, bis der Hunger den Abschluss der Verdauung anzeigt. Ideal sollte mit der nächsten Nahrungsaufnahme sogar so lange gewartet werden bis wieder Raum im System entsteht, indem Stuhl und Urin eliminiert wurden.

„Die ideale Zeit für Nahrungsaufnahme ist nach der Elimination von Stuhl und Urin, wenn der Geist rein ist, wenn die doṣas sich in ihren natürlichen Bahnen bewegen, wenn das Aufstoßen rein ist, wenn der Hunger deutlich vorhanden ist, wenn der Flatus leicht nach unten geht, wenn agni eifrig ist, wenn die Sinnesorgane rein sind, wenn der Körper leicht ist. Essen sollte eingenommen werden, wenn man die Regeln der Prozeduren der Einnahme der Nahrung beachtet. Dies ist die ideale Zeit.“
Aṣṭ. Hṛ. Sū. 8: 54-55

Ernährungsregeln nach Caraka

Die korrekte Ernährung zu beschreiben ist außerordentlich schwer. Es gibt nicht die eine Ernährungsform, die für jeden richtig ist. Verschiedene Menschen leben unterschiedlich, haben unterschiedliche Anforderungen an die Nahrung und unterschiedliche Möglichkeiten, sich zu nähren. In verschiedenen Gebieten der Welt gibt es unterschiedliche Nahrungsmittel. Im Verlaufe von Jahrhunderten kommen neue Lebensmittel hinzu, alte verschwinden von den Speiseplänen. Ein junger Mensch braucht mehr Nährstoffe als ein alter, ein körperlich Schaffender mehr als ein Mensch mit sitzender Tätigkeit. Im Sommer braucht man weniger, im Winter mehr zu essen. 

Daher kann ein Ernährungsmediziner nie eine Ernährung für alle ansetzen, sondern muss sich an Richtlinien orientieren, um für den Einzelnen individuell die korrekten Empfehlungen geben zu können. 

Einige dieser Richtlinien wurden bereits im Artikel über die Logik der Ernährung 2017 beschrieben1. Ein anderer Ansatz, die korrekte Ernährung aus āyurvedischer Sicht zu beschreiben, sind die acht Faktoren, die sich in der klassischen āyurvedischen Literatur bei Caraka in Vimānasthāna 1 finden2.

prakṛti - Natur

Zunächst sollte man die richtigen Lebensmittel für die Ernährung auswählen. Dazu muss ein Ernährungsmediziner die Natur der einzelnen Lebensmittel und Lebensmittelgruppen kennen. Dafür werden in allen āyurvedischen Klassikern über viele Kapitel die pharmakologischen Eigenschaften und therapeutischen Einsatzmöglichkeiten der zu dieser Zeit bekannten Lebensmittel und Flüssigkeiten beschrieben3. Ein āyurvedischer Arzt lernt außerdem, die Lebensmittel, die klassisch nicht beschrieben sind, in ihren pharmakologischen Eigenschaften selbständig zu analysieren. 

„prakṛti ist Natur, welche die natürliche Existenz von Eigenschaften wie schwer etc. in Substanzen bezeichnet, die als Nahrung oder Medikament genutzt werden – so wie Urid-Linse (ist schwer) und Mungbohne (ist leicht), Schweinefleisch (ist schwer) und Fleisch von Wild (ist leicht).“
Ca. Sa. Vi. 1: 21,1

Auch bei aller Verarbeitung und Kombination bleiben die pharmakologischen Eigenschaften der Lebensmittel die Grundlage der Wirkung der Gerichte, weil sie die elementare Zusammensetzung der Substanzen widerspiegeln.

karaµa - Zubereitung

In vielen Lehrbüchern über āyurvedische Ernährung findet man Listen von Lebensmitteln mit deren Wirkungen auf die doṣas. Diese sind durchaus korrekt, können aber den zweiten Aspekt der āyurvedischen Ernährungsbetrachtung nicht widerspiegeln: die Veränderung, die durch Zubereitung entsteht. Milch zum Beispiel wirkt kühlend und ist etwas schleimig. Dies würde zwar aufbauend wirken, aber kann auch zu Schleimerkrankungen führen. Durch eine Zubereitung wie beispielsweise einem Aufkochen der Milch, ideal mit einem Gewürz wie Trockeningwer oder Kurkuma verändert sich die Wirkung der Milch. Sie ist nicht mehr so kühlend und nicht mehr schleimig, aber noch aufbauend.

In den klassischen Schriften wird versucht, Veränderungen der Wirkungen der Lebensmittel durch die Zubereitung im Kapitel über die Lebensmittelherstellungen darzustellen. Man kann daraus ersehen, dass die Verarbeitung von rohen Lebensmitteln nicht nur zu einer geschmacklichen Veränderung führt, sondern das Aufspalten der Lebensmittel erleichtert.

„karaµa ist die Herstellung oder Verfeinerung der natürlichen Produkte, welches zu anderen Eigenschaften führt. Die Eigenschaften, die durch Kontakt zu Wasser und Feuer eingeführt werden, durch Reinigen, Reiben, Ort, Zeit, Ziehenlassen, Einweichen etc. auch durch lange Zeit, Werkzeuge etc.“
Ca. Sa. Vi. 1: 21, 2

saṃyoga - Kombination

saṃyoga ist die Verbindung von mindestens zwei Substanzen. Sind diese Substanzen miteinander verbunden, entstehen neue, sogenannte emergente Eigenschaften, die nicht aus denen der Einzelsubstanzen zu erkennen sind. Auf diese Weise können ebenfalls unerwünschte Eigenschaften der Nahrungsmittel in Speisen reduziert werden. Beispielsweise wird Rohkost für austrocknend gehalten und sehr schwer verdaulich. Wird ein rohes Gemüse aber mit einer Essig-Öl-Marinade mit Pfeffer, Salz und anderen Kräutern kombiniert, so wird durch das Öl die Rauigkeit gelindert und durch den Essig und die Gewürze die Verdaulichkeit erleichtert. 

Allerdings kann man auch durch die Kombination Lebensmittel mit ungünstigen Eigenschaften versehen. So werden zum Beispiel sehr gut verdauliche Lebensmittel wie Ghī, Honig oder Milch durch die Verbindung mit anderen wie Fisch oder Fleisch negativ verändert, weil die Eigenschaften der Kombination in sich widersprüchlich sind.

„saṃyoga ist die Kombination von zwei oder mehr Substanzen. Dies führt zu Eigenschaften, die nicht in den einzelnen Substanzen zu sehen sind – so wie bei Honig und Ghī oder Honig, Fisch und Milch.“
Ca. Sa. Vi. 1: 21, 3

rāśi - Menge

Auch die beste Ernährung führt zu Krankheiten, wenn davon zu viel oder zu wenig gegessen wird. Wie auch Paracelsus lehrt, macht allein die Dosis das Gift!

Die Frage des Maßes betrifft aus āyurvedischer Sicht zwei Aspekte und zwar sowohl die Gesamtdosis als auch die Menge der einzelnen Bestandteile. 

In Deutschland ist heute die Menge ein wichtiges Thema. Die meisten Menschen essen nicht nur insgesamt zu viel und zu häufig, sondern auch zu viel Weizen, zu viel Zucker, zu viel tierische Eiweiße, aber zu wenig Linsen etc. Oder sie tendieren in das andere Extrem und essen nur noch vegane Rohkost. Beides ist aus āyurvedischer Sicht nicht zu empfehlen.

„Die Menge besteht aus Gesamtmenge und Einzelmengen, die die Wirkung der Nahrung, die wir in richtiger oder unrichtiger Menge zu uns nehmen sicherstellt. Die Berechung der Menge der gesamten Nahrung in Gänze ist die Gesamtmenge während die Einzelmengen die Mengen der einzelnen Lebensmittel ist...“
Ca. Sa. Vi. 1: 21, 4

deśa - Ort

Man sollte die Dinge essen, die dort wachsen, wo man selbst lebt. Diese haben den gleichen Boden und die gleichen Umwelteinflüsse wie derjenige, der sie verspeist. Dies gibt dem Essenden die besten Voraussetzungen, um den Einflüssen in dieser Gegend gewachsen zu sein. Erdbeeren aus Israel oder Äpfel aus Neuseeland sind damit āyurvedisch gesehen nicht sinnvoll. 

In Deutschland herrscht oft die Vorstellung vor, dass „āyurvedische Ernährung“ bedeuten würde, dass man indisch kocht. Diese wird von dem Faktor deśa widerlegt. Eine gute lokale Küche kann āyurvedisch eher richtig sein als indisches Curry.

„deśa zeigt den Ort im Hinblick auf das Wachstum als auch der Verteilung der Substanzen an und auch Eignung im Bezug auf den Ort.“ Ca. Sa. Vi. 1: 21, 5

kāla - Zeit

Die Zeit  spielt  bei der Ernährung ein große Rolle. Dabei wird der Begiff „kāla“, Zeit, im Āyurveda immer breit interpretiert. Zum einen sollten die Lebensmittel, die man zum Essen auswählt, vor allem diejenigen sein, die jahreszeitlich vorhanden sind. „kāla“ steht aber auch für die richtige Ernährung zum richtigen Zeitpunkt. Wann isst man Frühstück? Was isst man am Abend? Was isst man als Säugling und was als alter Mensch? Was zu welchem Zeitpunkt von Erkrankungen? 

Ein Nicht-Beachten des Aspektes der Zeit kann viele Erkrankungen auslösen oder deren Heilung behindern! 

„kāla ist die ewig sich bewegende Zeit als auch relativ. Der relative Aspekt bezieht sich auf die Erkrankung, während der ewige sich auf die jahreszeitliche Eignung bezieht.“
Ca. Sa. Vi. 1: 21, 6

upayogasaṃsthā - Regeln der Ernährung

Die allgemeinen Ernährungsregeln wurden im Artikel „Logik  der āyurvedischen Ernährung“ beschrieben1. Es geht dabei um Aspekte wie die richtige Auswahl der Lebensmittel, die richtige Kombination von Substanzen, die richtige Reihenfolge der Speisen, in der richtigen, nämlich frischen Zubereitung, im richtigen Maß und zur richtigen Zeit. Essen entgegen den Ernährungsempfehlungen bedeutet hier vor allem ein Essen jenseits des Hungers. Dies führt zu unvollständiger Verdauung mit der Bildung von unvollständig verstoffwechselten Metaboliten, „āma“, und ist damit gesundheitsschädlich. Aber natürlich kommen hier auch noch einmal die anderen zuvor besprochenen allgemeinen Regeln der Ernährung zur Interpretation.

„upayogasaṃsthā bedeutet die Regeln der Ernährung. Diese hängen von der verdauten Nahrung ab.“
Ca. Sa. Vi. 1: 21, 7

upayokta - Essender

Ob eine Ernährung gesundheitsförderlich ist oder nicht, hängt nicht zuletzt von dem ab, der sie essen soll. Was für eine Konstitution hat er? Was isst er gerne? Ist er ein aus medizinischer Sicht gesundheitsförderliches Essen gewohnt? 

Diese Gewöhnung wird im Āyurveda „sātmya“ genannt und auch bei der Auswahl  der richtigen Ernährung bedacht.

„sātmya ist das, was für diese Person passt.“
Ca. Sa. Vi. 1: 20

sātmya kann in verschiedenen Weisen betrachtet werden.

Es ist das, was von Natur aus für ein Individuum geeignet ist. Z.B. für den Menschen mit pitta-Konstitution ist schwerere Kost von Natur aus geeignet als für einen Menschen mit vāta-Konstitution.

sātmya ist auch das, woran sich ein Mensch durch jahrelange Gewöhnung adaptiert hat. Beispielsweise ist kann ein Mensch, der jahrelang täglich 20 km joggt, dies ohne große Erschöpfung tun, während einer, der daran nicht gewöhnt ist, davon erschöpft würde. Im Bezug auf Ernährung heißt das auch, dass ein Mensch, der noch nie mit indischen Kräutern gewürzt gegessen hat, sondern an europäische Kost gewöhnt ist, nicht unbedingt gesunder wird, wenn er, um „richtig“ āyurvedisch zu essen, nur noch indische Mungbohnensuppe isst.

sātmya meint außerdem die Fähigkeit eines Individuums, sich an Dinge anzupassen und neu zu gewöhnen. Das spielt im therapeutischen Kontext eine große Rolle: wie viel Anpassung und Veränderung kann ein Individuum vertragen? Man könnte das auch mit Stresstoleranz auf Änderungsreize in Bezug setzen.

sātmya kann sich aber auch pathologisch entwickeln. Zum Beispiel kann man sich daran gewöhnen, jeden Abend eine Flasche Wein zu trinken oder immer Süßigkeiten zu essen. In diesem Falle kann sātmya einen Krankheitsprozess aufrechterhalten. 

In welchen Zusammenhang auch immer, es ist wichtig, sātmya wahrzunehmen und darauf zu reagieren, indem man neue, gesundheitsförderliche Angewohnheiten langsam einführt.

Es nutzt gar nichts, einem Menschen sein geliebtes und gewohntes Essen mit einem Schlag zu entziehen, damit er sich nun endlich gesund ernährt. Der betroffene Mensch kann sich entwickeln und verändern. Aber für eine stabile Implikation von Veränderungen der Gewöhnung muss man langsam vorgehen, Schritt für Schritt.

„upayokta ist der, der die Nahrung zu sich nimmt. Von ihm hängt „oka-sātmya“ (Eignung, die durch Gewöhnung entsteht) ab.“
Ca. Sa. Vi. 1: 21, 8

Diese acht Faktoren haben einen großen Einfluss auf die Frage, ob eine Nahrung gesundheitsförderlich ist oder nicht. Versucht man, eine āyurvedische Ernährungsberatung ohne diese Aspekte vorzunehmen, dann wird man dem Patienten nicht gerecht.

Zusammenfasung

Ernährung ist ein extrem wichtiges Thema im Āyurveda. Der Mensch entsteht mit  allen seinen Geweben direkt aus der Nahrung. Daher spielt die Ernährungsmedizin eine zentrale Rolle in der āyurvedischen Behandlung. Die richtige Ernährung ist jedoch nicht für alle Menschen zu allen Zeiten an allen Stellen dieser Welt die gleiche. Sie ist individuell anzupassen. Die acht Faktoren der Ernährung stellen die acht wichtigsten Prinzipien der āyurvedischen Ernährungstherapie zusammen und geben eine gute Leitlinie zur individuell richtigen Ernährungsberatung.

Zentral beim gesamten Thema der Ernährung ist im Āyurrveda immer die Frage des Verdauungsfeuers und seines Zustandes.

„Vom Verdauungsfeuer hängt die Kraft, die Gesundheit, die Lebensspanne und prāµa (die vitale Energie) ab. Das Verdauungsfeuer brennt mit Brennstoff aus Nahrung und Getränken, sonst wird er gestört.“
Ca. Sa. Sū. 7: 342

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